Nina Ort
Institut für deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München

Referat Strukturalismus - Handout

"Und es ist schließlich gut, dass die Frage ’woran erkennt man den Strukturalismus?’ zur Setzung von etwas führt, das nicht erkennbar oder identifizierbar ist."

Roman Jakobson: Was ist Poesie (1934) und Linguistik und Poetik (1960)

1.Kriterien zur Abgrenzung poetischer Texte

  • Inhalt: Eine Abgrenzung anhand des thematisierten Gegenstands ist heute nicht mehr möglich, da alles zum Gegenstand von Literatur werden kann.
  • Form: Eine Abgrenzung anhand "dichterischer Mittel" ist nicht möglich, da diese in ständigem Wandel begriffen und zeitgebunden sind.
    --> Es gibt keine eindeutige Grenze zwischen Kunstwerken und anderen Werken, eine eindeutige Grenze existierte allein in bezug auf die Funktion der Sprache
  • Poetizität: Die poetische Funktion der Sprache ist das einzig autonome Element poetischer Texte. Zwar ist sie auch nur Bestandteil einer komplexeren Struktur, doch sie verändert die Beschaffenheit des Ganzen. Spielt die poetische Funktion in einem Text die determinierende Rolle gegenüber anderen Funktionen der Sprache, kann man von Poesie sprechen.

2.Die poetische Funktion

Sprachfunktionsmodell nach Jakobson: Bei jeder Funktion steht jeweils ein anderer Faktor des Sprachmodells im Zentrum

Kontext
referentiell
Nachricht
poetisch
Sender
emotiv>
Empfänger
konativ
Kanal
phatisch
Code
metasprachlich

Zur poetischen Funktion:
Die Nachricht ist auf sich selbst eingestellt. Das Wort ist nicht nur Verweis auf die außersprachliche Wirklichkeit, sondern es hat einen selbständigen Wert.
Das Wort wird "als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden". [Jakobson: Was ist Poesie. 1934, S. 79]

3.Das äquivalenzprinzip

Jakobson meint, ein objektives, da empirisch linguistisches Kriterium gefunden zu haben, das einen poetischen Text kennzeichnet: "Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der äquivalenz von der Achse der Selektion [paradigmatische Achse] auf die Achse der Kombination [syntagmatische Achse]. Die äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben." [Jakobson: Linguistik und Poetik. 1960, S. 94]
--> Literarische Texte sind durch möglichst viele äquivalenzen auf verschiedenen Ebenen (phonologisch, syntaktisch, semantisch, ...) gekennzeichnet.

Eine äquivalenz auf einer Ebene ruft immer auch äquivalenzen auf anderen Ebenen hervor.



Gilles Deleuze: Woran erkannt man den Strukturalismus?

--> Wer ist Strukturalist?
  • Ursprung: Linguistik --> Anwendung dieser Methoden in anderen Bereichen
  • keine Struktur außerhalb der Sprache (aber: z.B. schweigender Diskurs der Dinge)

Formale Erkennungskriterien:
1. Das Symbolische

  • Mensch: Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem
    --> Anerkennung einer 3.Ordnung: das Symbolische (Element der Struktur)
  • Symbolische Ordnung reicht tiefer als die anderen Beiden, ist deren Grundlage
    --> symbolisches Element, aber: es ist nicht bekannt, worin das dieses besteht (nicht Form, Figur, Wesen)

2. Das Lokale oder die Stellung

  • Worin besteht das symbolische Element der Struktur?
    Elemente der Struktur: weder äußerliche Bezeichnung, noch innere Bedeutung --> Sinn entsteht aus der Stellung im strukturellen, topologischen Raum, Sinn ergibt sich nur aus der Kombination von Elementen, die nicht selbstbezeichnend sind ? symbolische Ordnung
  • Orte im strukturellen Raum sind vorrangig zu realen Dingen und Lebewesen und zu imaginären Rollen und Ereignissen

3. Das Differentielle und das Besondere

  • Worin bestehen symbolische Elemente oder Positionseinheiten?
  • Relationen:
    - zwischen unabhängigen und autonomen Elementen --> real
    - zwischen Gliedern ohne spezifiziertem Wert, aber in jedem Fall einen bestimmten Wert haben müssen ? imaginär
    - zwischen Elementen ohne bestimmten Wert, die sich aber in ihrem Verhältnis gegenseitig
    bestimmen: differentielles Verhältnis --> Definition der symbolischen Natur
  • Struktur hat 2 Aspekte:
    - System differentieller Verhältnisse (symbolisches Element bestimmt sich danach)
    - System von Besonderheiten, die diesen Verhältnissen entsprechen und den Raum der Struktur zeichnen

4.Das Differenzierende, die Differenzierung
STRUKTUR:

--> Elemente
--> Verhältnisse
--> Punkte --> Infrastruktur (innerer Aufbau)

- "...real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein." [S.27]
- "...ideales Reservoir..." [S.27]
- "...Vielzahl von virtueller Koexistenz." [S.28]

  • Bsp.: Gesellschaftssystem (Marx)
  • "Was besteht in der Struktur nebeneinander?"
    -->"Alle Elemente, Verhältnisse und Verhältniswerte, alle Besonderheiten, die dem betrachteten Bereich eigen sind." [S.28]

KOEXISTENZ: --> "differentielle Verhältnisse und Elemente, die in einem vollkommen und vollständig und vollständig Ganzen nebeneinander bestehen" [S. 28]

  • Bsp.: Keine totale Sprache (Phoneme, Diskurse), keine totale Gesellschaftsform [S.29]

AKTUALISIERUNG:

--> nach ausschließenden Richtungen [S.28]
--> partielle Kombinationen & unbewusste Auswahl [S.28]
--> Verkörperung der Struktur (gegenwärtiger Zustand)
--> Verwirklichung der Elemente virtueller Koexistenz
--> Vom Virtuellen zum Aktuellen
  • Bsp.: das Wort Differenz:
    - gesprochen: Differen{ts}
    - geschrieben: Differen{z}

--> DIFFERENZIERUNG: vollzieht sich in Arten & Teilen
"Die Struktur ist aus sich heraus ein System differenzieller Elemente und Verhältnisse; aber sie differenziert auch ebenso die Arten und die Teile, die Wesen und die Funktionen, in denen sie sich aktualisiert." [S.31]

5.Das Serielle
Jede Struktur ist seriell (multiseriell)

  • es gibt immer mindestens zwei Serien
  • die eine bezieht sich auf die andere (komplexe Beziehungen)
  • sie setzen sich aus symbolischen Gliedern und differentiellen Verhältnissen zusammen

  • Bsp.: Totemismus
    Imagination --> ein Mensch oder eine Gruppe identifiziert sich mit einem Tier
    Symbolisch --> strukturelle übereinstimmung zweier Serien von Gliedern:
    1. Serie von Tierarten = Elemente differentieller Verhältnisse
    2. Serie gesellschaftlicher Positionen [S.37]
  • Bsp.: The purloined letter von Edgar A. Poe
    1. Serie: dem {König} der den Brief nicht sieht - der {Königin}, die sich darüber freut, ihn um so besser verborgen zu haben, als sie ihn auffällig hat liegenlassen - dem {Minister}, der alles sieht und den Brief nimmt
    2. Serie: der {Polizei}, die bei dem {Minister} nichts findet; dem {Minister}, der sich freut, den Brief um so besser verborgen zu haben, als er ihn auffällig hat liegenlassen - {Dupin}, der alles sieht und den Brief zurücknimmt [S.38]

6.Das leere Feld
Es gibt ein OBJEKT X, das außerordentlich (es gehört keiner Serie an!) symbolisch ist!
- es durchläuft die Serien
- die Serien sind divergent, das Objekt X ist der Konvergenzpunkt
- es fehlt an seinem Platz (leeres Feld, Nullpunkt, blinder Fleck)
- es kann seinen Ort wechseln
--> STRUKTUR = Ordnung der Orte unter wechselnden Verhältnissen
- Bsp.: der Brief (Poe), der Refrain eines Chansons [S.41/42]

LEERES FELD = Symbolischer Nullwert
--> "Die Strukturordnungen kommunizieren nicht an ein und demselben Ort, aber sie sind alle durch ihren leeren Platz oder das jeweilige Objekt X miteinander verbunden."
- Bsp.: Nullphonem: keinerlei differentiellen Charakter noch phonetischen Wert [S.46]



Bibliographie:
- Jakobson, Roman: Was ist Poesie? in: Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. S.67-82
- Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. in: Poetik: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. S.83-121
- Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus? Berlin. 1992

Referenten: Ehinger Matthias, Haberl Kathrin, Knott Magdalena


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