Nina Ort
Seminar: Engagierte Literatur

Handouts
Th. W. Adorno: Noten zur Literatur
Referenten:
Karoline Hornik
Amira Murhej
Elisabeth Scherr
Thorsten Wufka

1. Ansatzpunkt: Kritische Theorie

  • "Selbstzerstörung der Aufklärung"
    Fundamentalkritik an der Moderne.
    Prozeß der Zivilisation und das Vermögen der Vernunft wird in Frage gestellt.
    Denn: Die Vernunft hat sich zur "instrumentellen Vernunft" gewandelt
    => Aufklärung hat einst den Mythos abgelöst, schlägt aber nun in einen neuen Mythos um, indem sie sich selbst absolut setzt und dadurch ihre kritische Kraft sowie ihr Vermögen zur Selbstkritik verliert.
    => Umschlag von Vernunft in Mythos und Barbarei (Drittes Reich, Massenkultur in den USA)
    Diagnose: Gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang
  • Weg aus dem Verblendungszusammenhang heraus?
    Um nun Kritik üben zu können, die mich aus dem Verblendungszusammenhang führen kann, müßte ich eine Beobachterposition von außen auf die Gesellschaft einnehmen. Denn wenn ich innerhalb stehe, kann ich nur Vorgefundenes reproduzieren, das ich damit bestärke. Wenn ich mich aber außerhalb der Gesellschaft stelle, kann ich diese als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen beobachten und reflektieren.

    Doch: "Kein Standort außerhalb des Getriebes lässt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen." (Adorno, Soziologische Schriften I (Gesammelte Schriften Bd 8), S.369)

    => ich kann mich nicht außerhalb stellen, bleibe innerhalb verhaftet. Das allerdings kann ich thematisieren.
  • Problematik von Begrifflichkeit
    Wenn ich dies tue, muß ich mir bewußt machen, daß ich in meiner Begrifflichkeit auch innerhalb verhaftet bleibe. Es ist die Unmöglichkeit, mit dem Begriff über den Begriff hinauszukommen, die ich auf den Begriff bringen will.
    Das kann ich nur in der Begriffslosigkeit, und das kann nur die Kunst.
  • Forderung: Kunst soll "Chaos" in die Wirklichkeit bringen
    Aufgabe der Kunst ist Subversion und Kritik des Bestehenden ("bestimmte Negation").
    Wie geht das, wenn ich mich nicht außerhalb stellen kann?
    => Kunst sei all das, was "nicht der Fall" ist.
  • Prinzip des Nicht-identischen
    Nicht bloße Abbildung sondern Konfiguration einer Sprache, die sich dem identifizierenden Denken wie dem Begriff entzieht.
    Denn wenn ich identifizieren kann, komme ich aus dem Zirkel des Bestehenden nicht heraus, ich erhalte eine Alternative, aber keine neue Anregung (=> Keine Kritikfähigkeit).

    So stellt sich Kunst in Opposition zur Gesellschaft, sie vertritt das Prinzip des Nicht-identischen in einer Gesellschaft, in der die instrumentelle Vernunft an alle Dinge ein Identitätszeichen haftet.

    Das macht die Autonomie der Kunst aus. Kunst trägt in sich allerdings einen Doppelcharakter - gleichzeitig ist sie gesellschaftliches Faktum (fait sociale).

    Die Kunst soll sich aus der Schleife herausheben, indem sie auf das Naturschöne zurückgreift. So ist sie gefeit, in die Entfremdungskategorien, denen der Mensch unterworfen ist, zurückzufallen. Und hier kann sie auch wieder zur mimesis aufrufen.
    Kunst ist utopisch und trägt in sich immer Momente, die auf einen Zustand von herrschaftsfreiem Glück hinweisen. Sie ist die letzte Zufluchtsstätte, wo noch ein Moment des Wahren aufscheint.
  • Engagierte Kunst - l'art pour l'art
    Aus diesem Ansatz von Adorno sind nun weder engagierte Kunst noch l'art pour l'art haltbar.

    Denn: Kunst muß ihre Distanz zur Realität wahren (abgesetzt, aber nicht abgetrennt). Die engagierte Kunst hebt die Differenz zur Realität auf. Und l'art pour l'art setzt sich selber absolut und leugnet so den Bezug zur Realität.
2. Gegenüberstellung der Ästhetik von:
Sartre
  • Sartre hat nie eine 'klassische' Ästhetik geschrieben, es lassen sich nur Vorarbeiten dazu in seinen Werken finden.
  • Grundsätzlicher Unterschied zwischen Literatur und bildender Kunst: Literatur besteht immer aus Zeichen u. kann nie auf nichts verweisen. Bildende Kunst kann unabhängig davon schön sein.
  • Generelle Schönheit ist die Vereinigung - die Totalisierung, das Ensemble - nicht die Totalität einer Sache, ein Kunstwerk ist ein Subjekt. "Die Schönheit ist eine totalisierende Vereinigung, die mittels dieser Totalisierung das Gespenst einer niemals erreichten Totalität vorgibt: im Verhältnis zwischen Totalisierung und Totalität suche ich die Idee der Schönheit."
  • Das Leben der Kunst besteht im übergang eines detotalisierten Individuums zum Werk als Totalisierung, ein Gemälde z.B. ist nichts anderes als die unabgeschlossene Totalisierung des Malers. In jedem künstlerischen Werk ist der Künstler als Ganzes präsent.
  • Sartre sieht die Schönheit nicht außerhalb etwas, sondern gerade in der vollständigen Vereinigung, die der einzelne sich konstruiert.
  • "...wie die menschliche Freiheit die einzige Möglichkeit zu malen oder zu schreiben ist."
  • Grundannahme ist, dass die (pure) Existenz, dem Sein (der sinnvollen Existenz) vorausgeht - der Mensch weiß nicht, wofür er existiert.
  • Er übernimmt eine Rolle, die ihm einen Teil seiner Verantwortung für seine Existenz abnimmt, indem er eine höhere Instanz auswählt, die ihm eine Existenzberechtigung gibt (Religion, Partei,...) - der Mensch spielt eine Rolle, ist aber nicht diese Rolle.
  • Der Einzelne muss, indem er sich der Verantwortlichkeit für sein Leben bewusst wird, sich auf seine mögliche Zukunft hin selbst entwerfen. Er hat die Möglichkeit dazu, weil er:
    1. seine Position überdenken kann und er
    2. die Freiheit hat, Entscheidungen zu fällen.
  • Gleichzeitig muss man die Verantwortung übernehmen können, die sich durch den sozialen Raum ergeben, in dem man sich bewegt.
  • Indem man mit sich selbst "im Reinen" ist, entwickelt sich die menschliche, eigene, sich selbst verantwortliche Freiheit.
  • Wenn sich jeder seiner Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung bewusst wird, ist die Freiheit mit nur wenig Aufwand in dieser Gesellschaft zu erreichen.
Adorno
  • "Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten. (...) Eine befreite Gesellschaft wäre (...) jenseits der Zweck-Mittel-Rationalität des Nutzens. Das chiffriert sich in der Kunst und ist ihr gesellschaftlicher Sprengkopf."
    Weil:
    "Kunst hat inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie", denn Kunst weist auf "das Andere, vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfenes."
  • Herkömmliche "Kunst" ist Ware mit einem praktischen Wert, "Kunst" nach Adorno hat keinen praktischen Nutzen.
  • Die Utopie der Kunst muss umso vehementer sein, je mehr die Gesellschaft diese Utopie verbaut, die Utopie kann aber nicht erreicht werden.
  • Verweis auf einen Moment außerhalb des Verblendungszusammenhangs der vermeintlichen Herrschaft der "beherrschten" Worte.
  • Das Ende der Kunst erreicht eine Gesellschaft, die die Zweck-Mittel-Rationalität überwindet. (Relativierung eines 'Endes d. Kunst' später)
  • Wenn nicht mehr auf den Moment außerhalb verwiesen werden muss.
  • Kunst jetzt ist die geformte Abarbeitung von Leiden (Kafka, Beckett,...), es geht auch um die Selbstzerstörung der Kunst im herkömmlichen Sinne.
  • Kunst (Ästhetik) hat es mit objektiver Wahrheit zu tun. Diese erhebt Anspruch auf Allgemeinheit, ohne dafür Gründe zu haben.
  • Verzichtet man auf objektive Gründe, gerät man in den Bereich des subjektiven Kunstempfindens.
  • Dies ist aber nicht "anything goes", denn das ignoriert den der Kunst immanenten Anspruch auf Ernsthaftigkeit, das Naturschöne. Kunst bewertet die außerkünstlerische Wirklichkeit. (System Kunst beobachtet seine Umwelt) und greift auf das Naturschöne zurück.
  • Das Ende der Kunst liegt in der scheinlosen Schönheit. Für Adorno bedeutet dies: Schönheit ist ein Versprechen des Glücks (als Schein). Der anvisierte Zustand ist ein überwinden des ästhetischen Glücksversprechens, wenn Glück und Schönheit real sind.
3. Gegenüberstellung von Sartre und Brecht im Vergleich einer "schlechten" engagierten Literatur
"Schlechte" engagierte Literatur als:

1. engagierte "politisch wertvolle" Literatur bei zu wenig Kunst - Sartre
2. engagierte "künstlerisch wertvolle" Literatur bei zu schwammiger Aussage - Brecht

  • Sartre
    Jean-Paul Sartre fasste sein Leben und Schaffen als permanente Folge von Selbstabsagen und Verleugnungen auf. Die scheinbar totale Illusionslosigkeit, die Absage an alle Theorien und trotzdem eine creatio ex nihilo - die Erschaffung aus dem Nichts - Engagement entstehend aus Nichtengagement. Sartre selbst erwartete keine wirkliche Veränderung der Welt durch die Literatur, denn der Schriftsteller würde in die Objektivität abdriften, seine Intention würde Momentangabe werden, obwohl seine Motivation des zu Schreibenden irrelevant sei und erst der Wert eines Werkes steigt, je weniger es am Autor haften bleibt. Das engagierte Kunstwerk setzt sich von der Realität ab, indem es den Realitätsbezug für sich nicht verwendet. Es will nicht Maßnahmen, wie Tendenzstücke, herbeiführen, sondern vielmehr auf eine "HALTUNG" hinarbeiten. Der mehrdeutige Inhalt, ohne konkrete Aussage, nur die "abstrakte Autorität" zur Wählbarkeit der Freiheit, führt zum Verlust der wahren Freiheit, da diese ignoriert wird. Sartre stellt den Zusammenhang zwischen der Unabhängigkeit und dem "Wollen" eines Werkes fest. Die Intention des Künstlers zählt nicht, sondern die "avantgardistische Abstraktheit" ist die reflektierte Neutralität des Werkes, es ist ZWECK selbst.
  • Brecht
    Brechts Dramatik übertrumpft die Sartres durch die dargestellte Abstraktheit und die Erhebung dieser zum Formgesetz. Seine Menschen läßt er zu "Agenten" sozialer Prozesse und Funktionen schrumpfen, ohne deren Wissen um ihre Mittelbarkeit im realen Raum. Das "Lehrstück für Lernende" geschrieben, bleibt künstlerisches Prinzip, schafft es nicht zu abstrahieren. Brechts Mensch, scheitert am Gefangensein in gesellschaftlichen Normen.

    In Brechts "Maßnahmen gegen die Gewalt", laut Adorno eines der "fragwürdigsten Produkte", wird das "Bewusstsein erzeugt, es gehe ums Ernsteste". Dem polit. Engagement zuliebe wird seine politische Aussage zu leicht und zu verschwommen. Sie reduziert sich ästhetisch zu gunsten der politisch korrekten Wahrheit und verliert dadurch an Aussagekraft durch die Beanspruchung einer theoretisch-gesellschaftlichen Gültigkeit. Das Lehrstück für das Proletariat, den Laien verfasst, benötigt den Intellektuellen, um verstanden zu werden.
    Die Einfachheit der Sprache bleibt Fiktion.

    Bertholt Brecht beschreibt in der Kurzgeschichte "Maßnahmen gegen die Gewalt", wie seine beiden Hauptfiguren - Herr Keuner - der Denkende - (Keuner, schwäbisch Keiner) und Herr Egge (Ecke, kantig, gleiches Gegenüber - Jeder) der Gewalt gegenübertreten.
    Herr Keuner verwendet eine Notlüge, der personifizierten Gewalt gegenüber, Herr Egge sein Schweigen, als Gegenakt seiner Prinzipien ( .....Herr Egge, der gelernt hatte nein zu sagen).
    Durch die identische Situation der Rahmen- und Binnengeschichte wird deutlich, dass beide, Herr Keuner und Herr Egge ähnliche Erlebnisse mit der Gewalt haben.

    Leseprobe aus: Brecht: Versuche 1 - 12, S. 25 ff

    Der Konsens wird deutlich. Beide stehen nicht zu den von ihnen geäußerten Standpunkten, gegen Gewalt zu sein. Wobei Herr Keuner sich gegen seine innere Einstellung verhält, aber zu dieser steht - er habe kein Rückgrat - und Herr Egge gegen seine innere Einstellung schweigt. Beide beweisen, dass ohne Gewalt der Gewalt entgegengetreten werden kann. Durch Passivität erhofft jeder auf seine Weise einen Sieg über die Allmacht der Gewalt zu erringen. Die Prinzipien existieren jedoch nur theoretisch. Gewalt, als engagiertes Kunstwerk deklariert, wird Schauplatz der Grenzüberschreitung zwischen "Henker und Opfer", die beide, dessen Allmacht bejahen, in ihrem Gefangensein darin.

    Die Kantsche Formel: "Das Kunstwerk hat keinen Zweck, es ist aber Zweck", untermauert, dass nicht die Intention des Künstlers, sondern dessen Distanziertheit, die nicht zu begreifende Nichtaussage des Werkes, das Engagement produziert.
4. Charakteristika und Beispiele "guter" Kunst nach Adorno
Als Ausgangspunkt bedenken:
Frage: Darf es Kunst nach Auschwitz und in Anbetracht der "Verblendung" der Menschen in der Konsumgesellschaft noch geben, und wie müßte sie aussehen?
Kritik an zeitgenössischen Künstlern: 1.Brecht (politisch naiv, verharmlosend), 2. Sartre (mehrdeutig, Parolen, denen auch Gegner zustimmen kann), 3. Schönberg (eindeutige Darstellung der realen grausamen Taten. =>Verletzung des Respekts gegenüber Opfern)
Aber: Gründe, weiterhin künstlerisch tätig zu sein:
1. Kunst muß dem Naziverbrechen standhalten, darf nicht zynisch werden.
2. Kunst ist heute nahezu einziger Raum, in dem sich Leiden äußern kann.

I. Was macht nach Adorno "gute" zeitgenössische Kunst allgemein aus?
Moderne Kunst braucht neue Ausdrucksformen, um System und Ideologie unterworfene Welt zu entschleiern:
  • Künstler sollten Wirklichkeit nicht kopieren, sondern nach ihren eigenen Formgesetzen verwandeln und damit ihre Fassade entschleiern. Sonst erreichen sie nur eine Kopie der Oberfläche/ der Fassade, kommen aber zu keiner Erkenntnis, weil ihnen die Hintergründe verborgen bleiben.
  • Gesellschaftliche Probleme sollen sich in Form äußern, statt direkt durch Inhalt des Werkes auf Gesellschaft beziehbar zu sein.
  • Kunst darf weder zu nah an der Gesellschaft und völlig von dieser beeinflußt sein, noch total von ihr entbunden werden. =>Idealer Standpunkt, um Gesellschaft aus humanitären Gründen in Kunstwerk zu kritisieren: Autonom und "fait social" zugleich. Kunst ist somit nichts Zeitlos-Abstraktes, sondern immer aus jeweiliger Gesellschaft/Geschichte geboren.
Ideale: Beckett, Kafka, Joyce, Proust. => Einsamkeit, Absurdität, Kommunikationsverweigerung als Kennzeichen dieser Kunst und Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände hinter der harmonischen Fassade.

II. Warum Kafka und Beckett als positive Beispiele?
  • Beckett hat mit Abstraktheit seines Formgesetzes adäquate Antwort auf Abstraktheit des Gesetzes gefunden, das Gesellschaft bestimmt - also auf die Verabsolutierung der Vernunft.
  • Kein Trost bei Beckett (hätte Adorno wahrscheinlich auch als anmaßend und übertrieben betrachtet).
  • Kein direkt auf Sachverhalt bezogenes Engagement von Kunst bei Kafka und Beckett. So kann Kunstwerk ehrlich und tatsächlich engagiert sein. Was erreichen diese Stücke? Sie erregen Angst, die der Existentialismus nur in Worte faßt. Engagierte Kunst kann also nur scheinbar enthüllen, weil sie an der Oberfläche bleibt und keine tiefen innerlichen Erfahrungen anbieten kann.
  • Die guten Kunstwerke sind wie bei engagierten Kunstwerken Anweisungen für die Praxis, aber sie sprechen sie nicht aus. Stattdessen erreichen sie Rezipienten über Erfahrungen. Kafka scheint unpolitisch, aber die Politik ist durch die geschichtlichen Einflüsse und die Erfahrungswirkung seiner Prosa in seine Werke eingedrungen.
  • Gute Kunst enthält ein Spannungsverhältnis von Heiterkeit und Ernst. Beckett und Kafka erhalten diese Spannung zwischen Ernst und Heiterkeit ohne zu betrügen, indem bei ihnen an die Stelle der einfachen Heiterkeit, die nach Auschwitz nicht mehr möglich ist, eine reflexiv erhöhte Stufe tritt, nämlich die Selbstkritik als Komik der Komik.
  • Außerdem dürfte Folgendes im Sinne Adornos gewesen sein: Kafka verweigert kompensierende Wirkung von Literatur, er kompensiert nicht psychische Schäden der Gesellschaft, sondern will, daß seine Literatur schmerzt.
III. Nähere Untersuchung am Beispiel Kafka
Adorno: Kafka ist psychoanalytisch zu interpretieren, im weitesten Sinne implizit politisch, aber nicht explizit sozialkritisch/ politisch, d.h. als engagierte Literatur.
Form als Ort des gesellschaftlichen Gehalts in der Kunst: Charakteristika von Kafkas Literatur nach Adorno:
Sie deuten alle den Weg an, den Kafkas "Schockprosa" zur emotionaler Erfahrung macht.
  • Härte, Bestimmtheit der Darstellung durch Wörtlichkeit. Adornos Regel für die Kafka-Interpretation: "(...)alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken."
  • Aggressive physische Nähe von Kafkas Texten. Verhältnis von Text und Leser hat keinerlei Kontemplativität mehr. Leser wird zum Opfer des Textes und seiner Grausamkeit.
  • Wichtigkeit des Details bei Darstellungsweise und Sprache: Gesten, Details oft aussagefähiger als Worte. Sie führen zu Erfahrungen, dem eigentlich Wesentlichen bei Kafka.
  • Kunst macht Kafka ausschließlich aus der Realität, nicht aus ihrer Fassade. Entwicklung der Gesellschaft scheint er fast zu ahnen (Nationalsozialismus), Ankündigung der grausamen Wirklichkeit (besonders "In der Strafkolonie", "Die Verwandlung"), aber kein direkter Gesellschaftsentwurf der Zukunft.
  • Keine Verschleierung des Leidens, keine Verminderung, z.B. durch mildernden Stil der Sprache.
  • Déjà-vu-Charakter: Man wird an eigene Erfahrungen erinnert, die dann in grausamster Vorstellung enden. Darstellung des Vieldeutigen, Ungewissen wird ständig wiederholt, dehnt sich aus. Kafka will Anstrengung beim Leser produzieren. => Anmerkung: Adorno selbst will auch Anstrengung hervorrufen (keine Massentexte, deshalb absichtlich schwierigen Stil).
  • Entmenschlichung, Subjekte werden wieder zu Tieren (Tierparabeln). Menschen sind kein Selbst mehr, sondern sie sind Dinge, austauschbar, ähneln sich alle, haben keine Identität.
  • Sätze sind einerseits Wahn, andererseits Vernunft entsprungen. Bestätigung von Adornos These: Bruch von Sprache und Inhalt bei Kafka. =>Löst Unsicherheit und somit Angst aus. Sprache: nüchtern, kühl, Inhalt: surrealistisch, Gewaltphantasien. =>Auch Sprache dadurch gewalttätig gegenüber Leser.
Adorno will Dunkelheit in Kafkas Werk nicht auflösen und betont, daß Kafka nicht explizit auf Politik/ Geschichte eingeht, bezieht ihn aber andererseits recht konkret auf sein Gesellschaftskonzept:
  • Gesellschaftliche Situation, kapitalistische Spätphase: "Die Verwandlung": Kleinbürgermilieu. =>Individuum im organisierten Kollektiv gefangen. =>Verlust der Individualität.
  • Geschichte wird bei Kafka zum Auslöser des Grauens. Bürgertum hat Grauen später tatsächlich ausgelöst (Konzentrationslager des Faschismus).
  • Hermetisches Prinzip, Vieldeutigkeit und Unverständlichkeit werden von Adorno Menschen und ihren Verhältnissen zugeschrieben. =>Ist mit Subjektivität, die durch Zwang totalitärer Herrschaft vollkommen entfremdet wurde, zu verbinden.
  • Menschen handeln nicht von sich aus, sondern sind durch außen/ System bestimmt.
  • Dunkles, Parabolisches bei Kafka ist als Reaktion auf die Aufklärung hervorgerufen worden, also durch das Problem der instrumentalisierten Vernunft, die das Subjekt und damit auch das Unbestimmte, Dunkle nicht zulassen will, es unterdrückt.
  • Kafka wendet sich später gegen Psychologie: Seine Figuren sollen sich von ihrer Seele trennen. =>Ist nach Adorno heute die einzige Chance des Individuums zu überleben. Individuum/Subjekt muß gegen seinen eigentlichen Willen Gesellschaftsprinzip zustimmen, sich verleugnen, um zu überleben.
Literatur
  • Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Frankfurt: Suhrkamp stw 1998.
  • Gethmann-Siefert, Annemarie: Einführung in die ästhetik. München: Fink 1995.
  • Kunzmann, Peter u.a.: dtv-Atlas Philosophie. München: DTV 1998 (7.Aufl.)
  • Müller, Harro: Autonomie und Funktion. In: Helmut Bracker, Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek: Rowohlt 1997 (5.Aufl.), S.504-517.
  • Renner, Rolf Günter: Kritische Theorie. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996, S.113-121.
  • Scherpe, Klaus: Kritische Theorie. In: Weimar, Klaus u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. (Bd. 2) Berlin: de Gruyter 2000, S.345-349.
  • Sartre, Jean-Paul: Die Suche nach dem Absoluten. Texte zur bildenden Kunst. Hrsg. v. Vincent von Wroblewsky. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1999. Schweppenhäuser, Gerhard: Theodor W. Adorno zur Einführung. Hamburg: Junius 2000.
  • Suhr, Martin: Jean-Paul Sartre zur Einführung. Hamburg: Junius 2001
  • Brecht, Bertolt: Versuche 1 - 12
  • Sartre, Jean-Paul: Die Wörter. Reinbek: Rowohlt 1997.
  • Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Prismen. Baden-Baden: Suhrkamp Verlag 1955, S.303-342.
  • Anz, Thomas: Franz Kafka. München: Verlag C.H.Beck 21992.
  • Min, Hyung-won: Zur Kritik und Rettung des Scheins bei Th.W.Adorno. Der Zusammenhang der Gesellschafts-, Erkenntnistheorie und der ästhetik. Frankfurt (Main): R.G. Fischer Verlag 1992.
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