Als Ausgangspunkt bedenken:
Frage: Darf es Kunst nach Auschwitz und in Anbetracht der "Verblendung" der Menschen in der Konsumgesellschaft noch geben, und wie müßte sie aussehen?
Kritik an zeitgenössischen Künstlern: 1.Brecht (politisch naiv, verharmlosend), 2. Sartre (mehrdeutig, Parolen, denen auch Gegner zustimmen kann), 3. Schönberg (eindeutige Darstellung der realen grausamen Taten. =>Verletzung des Respekts gegenüber Opfern)
Aber: Gründe, weiterhin künstlerisch tätig zu sein:
1. Kunst muß dem Naziverbrechen standhalten, darf nicht zynisch werden.
2. Kunst ist heute nahezu einziger Raum, in dem sich Leiden äußern kann.
I. Was macht nach Adorno "gute" zeitgenössische Kunst allgemein aus?
Moderne Kunst braucht neue Ausdrucksformen, um System und Ideologie unterworfene Welt zu entschleiern:
- Künstler sollten Wirklichkeit nicht kopieren, sondern nach ihren eigenen Formgesetzen verwandeln und damit ihre Fassade entschleiern. Sonst erreichen sie nur eine Kopie der Oberfläche/ der Fassade, kommen aber zu keiner Erkenntnis, weil ihnen die Hintergründe verborgen bleiben.
- Gesellschaftliche Probleme sollen sich in Form äußern, statt direkt durch Inhalt des Werkes auf Gesellschaft beziehbar zu sein.
- Kunst darf weder zu nah an der Gesellschaft und völlig von dieser beeinflußt sein, noch total von ihr entbunden werden. =>Idealer Standpunkt, um Gesellschaft aus humanitären Gründen in Kunstwerk zu kritisieren: Autonom und "fait social" zugleich. Kunst ist somit nichts Zeitlos-Abstraktes, sondern immer aus jeweiliger Gesellschaft/Geschichte geboren.
Ideale: Beckett, Kafka, Joyce, Proust. => Einsamkeit, Absurdität, Kommunikationsverweigerung als Kennzeichen dieser Kunst und Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände hinter der harmonischen Fassade.
II. Warum Kafka und Beckett als positive Beispiele?
- Beckett hat mit Abstraktheit seines Formgesetzes adäquate Antwort auf Abstraktheit des Gesetzes gefunden, das Gesellschaft bestimmt - also auf die Verabsolutierung der Vernunft.
- Kein Trost bei Beckett (hätte Adorno wahrscheinlich auch als anmaßend und übertrieben betrachtet).
- Kein direkt auf Sachverhalt bezogenes Engagement von Kunst bei Kafka und Beckett. So kann Kunstwerk ehrlich und tatsächlich engagiert sein. Was erreichen diese Stücke? Sie erregen Angst, die der Existentialismus nur in Worte faßt. Engagierte Kunst kann also nur scheinbar enthüllen, weil sie an der Oberfläche bleibt und keine tiefen innerlichen Erfahrungen anbieten kann.
- Die guten Kunstwerke sind wie bei engagierten Kunstwerken Anweisungen für die Praxis, aber sie sprechen sie nicht aus. Stattdessen erreichen sie Rezipienten über Erfahrungen. Kafka scheint unpolitisch, aber die Politik ist durch die geschichtlichen Einflüsse und die Erfahrungswirkung seiner Prosa in seine Werke eingedrungen.
- Gute Kunst enthält ein Spannungsverhältnis von Heiterkeit und Ernst. Beckett und Kafka erhalten diese Spannung zwischen Ernst und Heiterkeit ohne zu betrügen, indem bei ihnen an die Stelle der einfachen Heiterkeit, die nach Auschwitz nicht mehr möglich ist, eine reflexiv erhöhte Stufe tritt, nämlich die Selbstkritik als Komik der Komik.
- Außerdem dürfte Folgendes im Sinne Adornos gewesen sein: Kafka verweigert kompensierende Wirkung von Literatur, er kompensiert nicht psychische Schäden der Gesellschaft, sondern will, daß seine Literatur schmerzt.
III. Nähere Untersuchung am Beispiel Kafka
Adorno: Kafka ist psychoanalytisch zu interpretieren, im weitesten Sinne implizit politisch, aber nicht explizit sozialkritisch/ politisch, d.h. als engagierte Literatur.
Form als Ort des gesellschaftlichen Gehalts in der Kunst: Charakteristika von Kafkas Literatur nach Adorno:
Sie deuten alle den Weg an, den Kafkas "Schockprosa" zur emotionaler Erfahrung macht.
- Härte, Bestimmtheit der Darstellung durch Wörtlichkeit. Adornos Regel für die Kafka-Interpretation: "(...)alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken."
- Aggressive physische Nähe von Kafkas Texten. Verhältnis von Text und Leser hat keinerlei Kontemplativität mehr. Leser wird zum Opfer des Textes und seiner Grausamkeit.
- Wichtigkeit des Details bei Darstellungsweise und Sprache: Gesten, Details oft aussagefähiger als Worte. Sie führen zu Erfahrungen, dem eigentlich Wesentlichen bei Kafka.
- Kunst macht Kafka ausschließlich aus der Realität, nicht aus ihrer Fassade. Entwicklung der Gesellschaft scheint er fast zu ahnen (Nationalsozialismus), Ankündigung der grausamen Wirklichkeit (besonders "In der Strafkolonie", "Die Verwandlung"), aber kein direkter Gesellschaftsentwurf der Zukunft.
- Keine Verschleierung des Leidens, keine Verminderung, z.B. durch mildernden Stil der Sprache.
- Déjà-vu-Charakter: Man wird an eigene Erfahrungen erinnert, die dann in grausamster Vorstellung enden.
Darstellung des Vieldeutigen, Ungewissen wird ständig wiederholt, dehnt sich aus. Kafka will Anstrengung beim Leser produzieren. => Anmerkung: Adorno selbst will auch Anstrengung hervorrufen (keine Massentexte, deshalb absichtlich schwierigen Stil).
- Entmenschlichung, Subjekte werden wieder zu Tieren (Tierparabeln). Menschen sind kein Selbst mehr, sondern sie sind Dinge, austauschbar, ähneln sich alle, haben keine Identität.
- Sätze sind einerseits Wahn, andererseits Vernunft entsprungen. Bestätigung von Adornos These: Bruch von Sprache und Inhalt bei Kafka. =>Löst Unsicherheit und somit Angst aus. Sprache: nüchtern, kühl, Inhalt: surrealistisch, Gewaltphantasien. =>Auch Sprache dadurch gewalttätig gegenüber Leser.
Adorno will Dunkelheit in Kafkas Werk nicht auflösen und betont, daß Kafka nicht explizit auf Politik/ Geschichte eingeht, bezieht ihn aber andererseits recht konkret auf sein Gesellschaftskonzept:
- Gesellschaftliche Situation, kapitalistische Spätphase: "Die Verwandlung": Kleinbürgermilieu. =>Individuum im organisierten Kollektiv gefangen. =>Verlust der Individualität.
- Geschichte wird bei Kafka zum Auslöser des Grauens. Bürgertum hat Grauen später tatsächlich ausgelöst (Konzentrationslager des Faschismus).
- Hermetisches Prinzip, Vieldeutigkeit und Unverständlichkeit werden von Adorno Menschen und ihren Verhältnissen zugeschrieben. =>Ist mit Subjektivität, die durch Zwang totalitärer Herrschaft vollkommen entfremdet wurde, zu verbinden.
- Menschen handeln nicht von sich aus, sondern sind durch außen/ System bestimmt.
- Dunkles, Parabolisches bei Kafka ist als Reaktion auf die Aufklärung hervorgerufen worden, also durch das Problem der instrumentalisierten Vernunft, die das Subjekt und damit auch das Unbestimmte, Dunkle nicht zulassen will, es unterdrückt.
- Kafka wendet sich später gegen Psychologie: Seine Figuren sollen sich von ihrer Seele trennen. =>Ist nach Adorno heute die einzige Chance des Individuums zu überleben. Individuum/Subjekt muß gegen seinen eigentlichen Willen Gesellschaftsprinzip zustimmen, sich verleugnen, um zu überleben.
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