Realismus in Russland
Referentin: Daria Alekhina
" Sie haben nicht bemerkt, dass Russland seine Rettung nicht im Mystizismus sieht, nicht im Asketismus, nicht im Pietismus, sondern in den Erfolgen der Zivilisation, der Aufklärung, der Humanität. Russland braucht keine Predigten (es hat genug davon gehört!), keine Gebete (es hat genügsam wiederholt!), sondern es braucht die Erweckung des Gefühls der Menschenwürde im Volk, die viele Jahrhunderte lang in Schmutz und Dung verloren war; es braucht Recht und Gesetze, die nicht mit der Lehre der Kirche, sondern mit dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit in Einklang stehen, sowie deren möglichst strenge Beachtung... Das Publikum... sieht in den russischen Schriftstellern seine einzige Führer, Beschützer und Erretter vor der Finsternis der Selbstherrschaft, Orthodoxie und des Volkstums und deshalb verzeiht es, obwohl stets bereit, einem Schriftsteller ein schlechtes Buch zu verzeihen, ihm niemals ein schändliches Buch! Das zeigt, wieviel frisches, gesundes Gespür in unserer Gesellschaft, wenn auch noch im Keime, vorhanden ist; und es zeigt, dass sie eine Zukunft hat".
Belinskij "Brief an Gogol" vom 15.07.1847
Russische Geschichte des 19. Jahrhunderts
Anfang des 19. Jahrhunderts - Ende der napoleonischen Kriege
→ Russland die stärkste Kontinentalmacht in Europa
→ zentral verwalteter Obrigkeitsstaat unter einem absolut herrschenden Zaren
14.12.1825 - Dekabristenaufstand
→ Protest gegen die Selbstherrschaft des Zaren und gegen Leibeigenschaft, blutig niedergeschlagen
1853-1856 Krimkrieg
Russland | <--> | Osmanisches Reich |
| | +
Frankreich
England |
| Niederlage Russlands
"Pariser Frieden" | |
wird von den Teilnehmern des Osmanischen Reiches, Russlands, Sardiniens, Frankreichs, Großbritanniens, österreichs und Preußens unterzeichnet.
Bedingungen:
Rückgabe der besetzten Gebiete durch Russland
Preisgabe Bessarabiens
Integrität des Osmanischen Reiches
Das Schwarze Meer wird entmilitarisiert
Folgen:
1. Man war der übermacht der feindlichen Koalition erlegen
2. Das Zarenreich verliert seine führende Rolle als europäische Ordnungsmacht.
3. Schlechte Organisation und Führung der Armee
Der Krimkrieg machte deutlich, dass das Zarenreich innenpolitisch und militärisch weniger fest gegründet war, als das unsichere Europa
Reformen sind unausweichlich
Der neue Zar Alexander II. kam zur Macht. Damit auch die Zeit der grossen Reformen, zweite russische Modernisierung.(Unter der ersten russischen Modernisierung werden die Reformen, die vom Peter dem Großen durchgeführt wurden.)
1856 deutete er auf einer Versammlung des Moskauer Adels an, es sei besser, die Leibeigenschaft von oben abzuschaffen als zu warten, bis sie von unten und von selbst abgeschafft würde.
19. Februar 1861 das Manifest über die Aufhebung der Leibeigenschaft. Das Manifest verschaffte den 40 Millionen Leibeigenen die persönliche Freiheit, eine Reihe der Zivilrechte und schützte sie in Zukunft vor gutsherrlicher Willkür. Zwar hatten die Bauern das Grundstück zur eigenen Benutzung lebenslang überlassen bekommen, um es aber als Eigentum zu erwerben, mussten sie hohe Zahlungen leisten. Der Staat hat 75-80% der gesamten Summe ausgezahlt, was im Laufe von 49 Jahren von den Bauern an ihn zurückerstattet werden musste.
Die schweren Bedingungen der Trennung der Bauern von Grundbesitzern hatte zahlreiche Bauernaufstände zur Folge.
Ein großer Teil der Grundbesitzer geriet durch die Bauernreform in eine schwere wirtschaftliche Krise.
Die Industrie war noch nicht so weit entwickelt, um den ländlichen Bevölkerungsüberschuß aufzufangen. Handwerklicher Nebenerwerb war meist der einzige Ausweg.
Wirtschaftsleben als ganzes erfuhr nach 1861 eine fühlbare Belebung, u.a. durch den geplannten Ausbau des bis dahin noch sehr bescheidenen Eisenbahnnetzes.
Weitere Reformen:
Justizreform (1864)
Gleichheit aller vor dem Gesetz, Trennung von Gericht und Administration, Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter, denen Geschworene zugestellt wurden, öffentlichkeit der Verhandlungen, Appellationsrecht, dem Angeklagten stand ein unabhängiger Rechtsbeistand zur Seite
Verwaltung der Provinz
Die Errichtung der sog. "Landschaftsverfassung" (zemstvo) von 1864, die aus den Vertretern 3 Stände: Adel, Städter und Bauer ausgewählt wurde.
Selbstverwaltungsorgane der Städte (1870)
- eine gewählte Stadtduma
- eine von ihr bestellte und kontrollierte Stadtverwaltung mit einem Bürgermeister an der Spitze
Bildungswesen (1862 - 1864)
- von Staat und Kirche unterhaltene höhere Mädchenschulen
- das Gleichheitsprinzip für alle Stände und Religionen in männlichen Gymnasien
- 1863 erhielten die Universitäten einen neuen Status und damit auch Autonomie. Die zunehmenden Studentenunruhen, die nicht nur politische, sondern auch ganz praktische Ursachen in der schlechten materiellen Versorgung der Studierenden hatten, führten zu scharfen Gegenmaßnahmen, die vieles von der gewährten Freiheit wieder zunichte machten.
Militärreform
- Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874
- Prügelstrafe wurde abgeschafft
- Die Dienstzeit des Militärberufes wurde von 25 auf 16 Jahren gesenkt
Alle dieser Reformen haben zu der Bildung der Industriegesellschaft beigetragen und die volle Entfaltung des Kapitalismus in Russland eingeleitet.
Russische Außenpolitik nach 1856
Wirkungen des Pariser Friedens --> Niederlage Russlands im Krimkrieg durch die Teilnahme am Krieg Englands und Frankreich spornte Russland zu Bündniserneuerung mit österreich und Preußen. Der gemeinsame Kampf gegen den polnischen Aufstand 1863, das Desinteresse Preußens an den Balkanfragen waren eine solide Grundlage für die gegenseitigen Beziehungen, die bis in die 90 Jahre erhalten bleiben. Russland blieb in allen innerdeutschen Auseinandersetzungen neutral
Krieg zwischen Frankreich und Preußen (1870 - 1871)
-->
Niederlage Frankreichs
-->
Kündigung der Schwarzmeerklausel 1856 durch Russland wurde auf Londoner Konferenz im Januar 1871 bestätigt
-->
Russland erhielt die volle Handlungsfreiheit im Schwarzen Meer
Russland, Preußen und österreich --> "Dreikaiserbündnis" (1872-1873).
Situation auf dem Balkan:
Türkei weigerte sich die vom "Dreikaiserbündnis" bestimmten und kontrollierten Reformen in ihren christlichen Provinzen durchzuführen
Aprilaufstand 1876 in Bulgarien
Krieg zwischen Serbien und Montenegro gegen Türkei
-->
Russisch - türkischer Krieg (1877 - 1878)
-->
in San Stefano - Präliminarfrieden mit den Türken
-->
österreich und England protestieren gegen die Bestimmungen dieses Friedens
-->
Berliner Kongress 1878
Die meisten Bestimmungen des Friedens von San Stefano, die den Balkan betreffen, werden revidiert.
-->
Spaltung zwischen Russland und den Alliierten und die Widersprüche zwischen England und Deutschland in der Balkanfrage
-->
Deutschland, Österreich + Italien | <--> | England, Frankreich |
Dreierbund" (1882) | | + Russland nach der Auflösung des "Dreikaiserbündnis" 1890
später "Antanta" (1907) |
Damit wurde die Lage Russlands in Europa stabil --> Expansion in Asien.
1860 - Erwerbung im Vertrag von Peking des Ussurilandes. Am äußersten Punkt dieser neugewonnenen Gebiete entstanden Hafen und Stadt Wladiwostok.
1875 – Vertrag zwischen Russland und Japan, nach dem Sahalin zu Russland und die kurillischen Inseln zu Japan gehörten.
1876 - Alaska wurde für 7,2 Millionen Dollar nach Amerika verkauft
1891 - Beginn der Bauarbeiten der Transsibirischen Eisenbahn (7.000 km von Tscheljabinsk nach Wladiwostok)
1894 - 1895 Krieg zwischen Japan und China und Niederlage Chinas
1896 - Verteidigungsbund von Russland und China gegen Japan
Für Alexander II. waren die Tendenzen zur Modernisierung Russlands offensichtlich. Das hatte die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Reformen zu Folge, die das Land allmählich zur Verfassung bringen sollte. Gerade an dem Tag (1.03.1881), als er den Plan der Realisierung des Verfassungsprojektes unterzeichnete, wurde er von einer Bombe getötet. Die Epoche der "grossen Reformen" wurde beendet.
Russische Literatur des 19. Jahrhunderts
1. Aufkommen von geistigen Strömungen
Welchen Weg soll Russland gehen?
Westler
Den Weg des Westens
ein möglichst schnelles Einholen der westlichen Entwicklung u.a. durch übertragung westlicher Einrichtungen wie Parlamentarismus usw.
Slawophilen:
seinen eigenen Weg, von seine Vergangenheit vorgezeichneten
Von der Eigenständigkeit der russischen Entwicklung überzeugt
lehnten westlichen Parlamentarismus ab
Landesversammlung - eine russische Art der Volksvertretung
keine Parteien
Beibehaltung der Selbstherrschaft des ZarenZar als Exponent des Volkswillens und Garant für die Freiheit der überzeugung des Einzelnen
2. Das 19. Jahrhundert stand auch unter dem Vorzeichen einer radikalen Literaturkritik, deren einflußreiche Theoretiker, Belinskij, Tschernyschewskij, Dobrolybow versuchten, die Autoren für die Utopie des gesellschaftlichen Wandels zu gewinnen, und die Literaturproduktion ihrer Zeit vornehmlich im Hinblick auf ihre sozialrevolutionären Impulse beurteilten. Zar Nikolaus I. belegte die Publizistik mit starker Zensur, wodurch Belletristik und Literaturkritik verstärkt die Funktion einer Art moralischer Instanz zufiel.
3. Mit der Phase des russischen Realismus erreichte die russische Literatur ihren bisherigen Höhepunkt. Dostoewskij, Tolstoj, Turgenjew, Gontscharow repräsentierten im Bewußtsein ausländischer Leser die russische Literatur. Kein Autor vor, wenige nach ihnen vermochten in ähnlich überzeugender Weise Vorstellungen von Russland, seiner Gesellschaft, seinen Menschen zu entwerfen wie die großen Vertreter des literarischen Realismus --> eine geschlossene Epoche.
- Darstellung des Leben des Einzelwesens und der Gesellschaft in ihrer Wechselbeziehung
- Auch in der Literatur ist die Bauernfrage vor und nach 1861 stets anwesend (in den Gestalten des "überflüssigen Menschen" oder des "reumütigen Adeligen") wurden die demoralisierenden Folgen der Leibeigenschaft dargestellt.
Da es ein Bürgertum in Russland nicht gab und sich jenseits des kulturell führenden Adels erst allmählich eine Intelligenzschicht (sogenannte Intelligenzija) entwickelte, geht es für den russischen Bereich nicht an, den Realismus als Literatur des Bürgertums, als "bürgerliche" Literaturepoche, zu bestimmen. Der russische Realismus wird vielmehr überwiegend vom mittleren und höheren Adel getragen. Großen Einfluß gewann die Intelligenzija durch ihre aktive Literaturkritik, die gesellschaftspolitische und ideologische Funktion in Russland hatte.
Man erkennt einzelne Elemente realistischer Abbildung der Welt bereits in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt eine Phase des "Aufklärungsrealismus" - erste "Hauptetappe" in der Entwicklung des russischen Realismus, steht in engem Zusammenhang mit dem Klassizismus.
Auch der Romantik als Stilformation wird eine spezifische Rolle bei der Genese des Realismus zugeschrieben: die Herausbildung der Kategorie des Individuellen im weitesten Sinne - im Gegensatz zu der dem Klassizismus eignenden Tendenzen zur Verallgemeinerung.
Die Puschkins - Zeit ist die übergangsphase zwischen Romantik und Realismus. Er bündelte in seinem Schaffen die Traditionen des 18. Jahrhunderts und die zeitgenössischen Strömungen. In seinen Gedichten, Oden und Dramen brachte er eine umfassende Kenntnis der europäischen Literaturen in die Beschäftigung mit Stoffen aus seinem russischen Umfeld. Sein Versroman Eugen Onegin ist der erste große russische Roman.
Die Erzählung der 30-er Jahren zeichnete ein buntes und allseitiges Bild der russischen Wirklichkeit und bereitete literaturgeschichtlich gesehen zweierlei vor: die Ablösung der romantischen Poetik durch die "Natürliche Schule" und die Entwicklung des russischen realistischen Prosaromans.
"Natürliche Schule" - in der russischen Literatur der 40-er Jahre sich durchsetzende Strömung, in der, neben antiromantischen Tönen, die neue "realistische" Schreibweise ausgebildet erschien. Zwei Impulse sind es, die eine Anzahl junger Literaten - darunter Turgenev, Gercen, Nekrasov, Dostoewskij - beflügeln:
1. das soziale Mitleid den "kleinen Leuten", den Benachteiligten und Unterdrückten der Gesellschaft
2. der andere Impuls liegt in der "physiologischen" Methode, die aus Frankreich und England kommend, seit den 20-er Jahren in Russland mehr und mehr rezipiert wurde. Die französischen "Physiologien" der dreißiger und vierziger Jahre, systematische Beschreibungen der Großstadt Paris und ihrer verschiedenen sozialen Gruppen und Stände, in Rußland alsbald übersetzt und fanden zahlreiche Nachahmer.
Zu den bedeutendsten Autoren dieser übergangsepoche profilierten sich auch Lermontov und Gogol. Wenn Lermontov noch sehr viele romantische Züge hat, löste sich Gogol endgültig von Pathos der Romantik und fand in seinen Erzählungen, Komödien und Satiren zu einem Stil, der die gesellschaftliche Darstellung menschlicher Entfremdung, Lasterhaftigkeit und Absurdität bis ins Groteske überspitzte.
Die 60-er Jahre - Aufhebung der Leibeigenschaft - sind auch in der Literatur ein Wendepunkt. Das war die Epoche der Herausbildung der russischen klassischen Prosa, die Blütezeit des russischen realistischen Romans, der zu dieser Zeit zur dominierenden Gattung wird und eine differenzielle Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der russischen Gesellschaft darstellt und durch zwei Typen vorgestellt wird:
1. das "sozial - universelle" Roman
Die Entwicklung und Typologie zeigen sich in kulturhistorischen Romanen Turgenjews "Adelsnest", "Väter und Söhne". Was die Welt und den Menschen in diesen Romanen betrifft, so löst sich der Held von den Rahmen des privaten Lebens und begibt sich in die Welt. In der Welt formt sich seine Persönlichkeit, er lebt sein Dasein voll aus, lebt mit den Fragen der Gegenwart und den ewigen Problemen der Menschheit.
2. Die neue künstlerische Anthropologie der Romanform wurde durch die philosophisch - psychologischen Romane Dostoewskijs und Tolstojs dargestellt. In den Romanen dieser Autoren kreuzen sich zwei wesentliche Richtungen der russischen Prosa das 19. Jahrhunderts - der "Personenroman" und die "Literatur über das Volk".
zurück zum Seminarprogramm
|