Nina Ort
Institut für deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München

Referate

Realismus in Frankreich
Referenten: Patrick Will und Valerie Fahrmüller

1. Zeit und Literaturgeschichte

Situation nach 1789

Die gesamte französische Literatur des 19. Jahrhunderts muss als Antwort auf die postrevolutionäre Situation gesehen werden, da die Revolution eine Jahrhunderte alte politische Tradition zerstört und dem Mittelalter definitiv ein Ende gesetzt hat.
Alle traditionellen Bindungen, die dem Einzelnen in der ständischen Ordnung einen festen, unabänderlichen Platz zugewiesen haben, sind nun gänzlich erschüttert und die Kirche kann nicht mehr länger als normenvermittelnde Instanz angesehen werden.
Dies hat auf der einen Seite natürlich Emanzipation und Befreiung, auf der anderen Seite aber auch Bedrohung und Isolation für das Individuum zur Folge.

1800- 1830 Romantik

Napoleon erklärt die Revolution für beendet und etabliert eine neue, bürgerliche Ordnung
Er strebt einen Kompromiss an zwischen
==> liberalem Bürgertum, sowie dem
==> anpassungsbereitem Adel
Diese Konsensbereitschaft verschafft Napoleon zunächst dann auch große Zustimmung.

In dieser Zeit wird die freie Entwicklung literarisch innovativer Tendenzen von Napoleon unterdrückt.Dieser hat nämlich Angst vor einer autonomen Literatur und bevorzugt daher einen domestizierten Neo- Klassizismus.
Ziel der frühromantischen Bewegung ist die Überwindung der noch immer vorherrschenden klassischen Tradition und die Verwirklichung einer Literatur, die den Bedingungen der nachrevolutionären Gesellschaft entspricht. Außerdem bringt das Spannungsverhältnis, das sich aus der postrevolutionären Situation ergibt, die Forderung nach problematischen und gebrochenen Figuren, anstatt rein positiver Helden, mit sich.

Die Industrialisierung ergreift Frankreich und hat auch erste Einflüsse auf die Literatur.

Die romantische Generation identifiziert sich noch weitgehend mit dem Liberalismus.
( Hugo: Le romantisme n'est que le liberalisme en littérature )
Während sich viele jüngere Autoren bereits vom bestehenden System distanzieren und nach dem Motto < l'art pour l'art > auf jedes gesellschaftliche Engagement verzichten und die Degradierung der Kunst zur Ware verweigern.

1830 - 1870 Realismus

1830: Julirevolution: Ende der restaurativen Monarchie
Louis Philippe wird zum Bürgerkönig erhoben und die Rückkehr zum ancien r&eacuet;gime scheint damit endgültig ausgeschlossen.
Jedoch besteht weiterhin das Zensuswahlrecht, das diesmal den 200000 Besitzenden zukommt und die republikanische Opposition sowie die Arbeiterschaft werden systematisch ausgeschaltet. Die Herrschaft gehört nunmehr den Besitzenden
Zu dieser Zeit gibt es keine institutionalisierten Interessensvertreter der unteren Bevölkerungsschichten.
==> dem Pressewesen eine enorme Bedeutung zu, da nur so der Öffentlichkeit Themen wie das wachsende Elend der Proletarier aufgezwungen werden. Es entseht eine immer stärker werdende sozialistische Bewegung.

Die kapitalistische Entwicklung schreitet mit großen Schritten voran. Die Konsequenz ist auch in Frankreich eine massive Landfluchtbewegung, die Städte wachsen rapide an. Fast jährlich kommt es nun aufgrund der sozialen Spannungen, sowie der bitteren Armut breiter Bevölkerungsschichten zu Ausschreitungen und Revolten, im Februar wird die Julimonarchie von einer breiten sozialen Allianz gestürzt

Keine Gattung erfährt nach 1830 eine solche Aufwertung wie der Roman, welcher zum eigentlichen Epos des bürgerlichen Zeitalters wird. Im modernen Roman werden nun die Wiedersprüche der Gegenwart zum Ausdruck gebracht und in das Bewusstsein des zeitgenössischen Lesepublikums gebracht. Daher erscheint es vielleicht auch angebracht, den Begriff Realismus durch den des Aktualismus zu ersetzen.

"Das Ziel der realistischen Kunst ist nicht mehr, den Ausgleich des menschlichen Kräftespiels in der moralischen Ordnung oder im Sieg des Guten zu erstreben und darzustellen. Genauso wie der medizinische Pathgologe seinen Ekel zu überwinden hat, wenn er ein Geschwür aufschneidet, so muss der gesellschaftskritische Pathologe seinen moralischen Widerwillen aufgeben. Der Verwissenschaftlichung des Romans entspricht seine Entmoralisierung".

Mit dem Auftreten der Milieutheorie verbindet sich die Einsicht, dass der Mensch eben nicht im leeren Raum steht und handelt, sondern ganz von seiner Umgebung abhängt und diese auch mit beeinflusst.

Entwicklung ab 1848

Zeitgeschehen

  • Mit der Februarrevolution 1848 wird die Julimonarchie gestürzt
  • Napoleon III wird zum Präsidenten gewählt
  • 1851 gelingt es Napoleon druch einen Staatsstreich die zweite Republik zu einem zweiten Kaiserreich zu machen
  • 1870 verliert Frankreich den Krieg gegen Deutschland

    neuer literarischer Zeitgeist
  • in der jungen mittelosen Künstlergeneration wächst die Antipathie gegen das Napoleon, das Staatswesen und die Bourgeoisie
  • herrschende Bourgeosie fühlt sich und ihre geheiligten Werte durch die Realisten, aber auch durch die Romantiker gefährdet.
    ==> es folgen einige repressive Maßnahmen gegen die Künstler: Theater-, Pressezensur, Prozesse
    ==> es entsteht eine große Opposition aller Schriftsteller und vieler anderer Künstler gegen das Regime

    der programmatische Realismus
  • der Begriff "réalisme" entwickelt sich von einer eher negativen Kategorie der Literaturkritik zu einem Schlagwort einer Gruppe von Literaten
  • Die realistische Schule wird u.a. von Jule Champfleury gegründet.
  • Einige ihrer Festlegungen über den Realismus:
    ==> eine exakte, ehrliche Wiedergabe der gesellschaftlichen Umwelt
    ==> Ausdruck der alltäglichen Banalität
    ==> Kunst muss vulgär werden

Drei Phasen des Realismus

  1. Phase
    ist durch die Ästhetik und Werkproduktion von Stendhal und Balzac gekennzeichnet.
  2. Phase
    ist um die Jahrhundertwende programmatisch und wird von einer betont kämpferischen Kampagne zur Durchsetzung der antiromantischen, basisdemokratischen Doktrin bestimmt
  3. Phase
    verläuft parallel zur zweiten Phase. Eine von Flaubert erarbeitete Doktrin der Unpersönlichkeit und Wissenschaftlichkeit der Kunst.

II. Honor&eacuet; de Balzac (1799- 1850)

  • Balzac gibt seinem Romanwerk den an Dante angelehnten Titel.
    Er selbst bezeichnet sich lediglich als Sekretär seines Werkes, als dessen eigentlicher Autor die französische Geschichte angesehen werden müsse. Zwischen 1820 und 1850 verfasst er circa 90 Romane, in denen er den Versuch unternimmt, die gesamte französische Gesellschaft seiner Zeit in ihren sozialen und regionalen Differenzierungen zu rekonstruieren bzw. zu wie er selbst sagt. Er glaubt, mit einer Anzahl von zwei- bis dreitausend Figuren oder Typen das gesamte Personenspektrum seiner Zeit wiedergeben zu können.
  • Für Balzac ist der Typ gleichzeitig eine Synthese von Individuum und gesellschaftlicher Rollenfunktion (Milieutheorie). Im besonderen Schicksal des Einzelnen sind so das Partikulare und das Allgemeine miteinander verknüpft
  • Die moderne Gesellschaft wird, analog zur Tierwelt, in "Arten" zerlegt, d.h. in Menschengruppen, die typenmäßige Handlungs- und Erscheinungsweisen aufweisen, wobei jeder Handlungs- und Erscheinungstypus einem sozialen Rang entspricht, also ganz wie bei den zoologischen Arten.
    Über diese fundamentale Analogie erhebt sich aber ein ganz wichtiger Unterschied, welcher die menschliche Gesellschaft ausmacht, nämlich das Prinzip der offenen Grenzen, die Dynamik, also die aus den Grundsätzen der Revolution herrührende soziale Gleitbewegung. Hauptmerkmal dieser Dynamik ist der soziale Auf- und Abstieg und eine allgemeine Jagd nach Reichtum und Besitz, welche aber nach den Normen der alten Moral zumindest fragwürdig, wenn nicht sogar kriminell erscheint

    <==> Eklatantestes Beispiel für die Industrialisierung der Literatur bietet wohl Alexandre Dumas père ( ). Dieser beschäftigte, zumindest zeitweise, einen ganzen Stab von Mitarbeitern, sog. , die dann - gemäß seinen Anweisungen - die Details seiner Romane ausgestalteten. -> Spekulation auf Massenkonsum

  • Das Proletariat ist bei Balzac nahezu inexistent. Die Klassenfront verläuft zwischen untergehendem Adel und aufstrebendem Finanzbürgertum.Balzac war also keinesfalls radikaler Demokrat, er fürchtete die Herrschaft der Masse Vielmehr strebte er eine Art Meritokratie, sowie eine gemäßigte, d.h. konstitutionelle Monarchie an

III. Gustave Flaubert

Biographie

1821   wird am 12. Dezember in Rouen als zweiter Sohn eines angesehenen Chirurgen geboren
1840- 43   sudiert Jura in Paris, muss es wegen einer Nervenkrankheit abbrechen
ab 1846   lebt er zurückgezogen auf dem Land, lernt seine geliebte Louise Colet kennen
1849 - 1851   verschiedene Reisen, nach Ägypten, Griechenland, Tunesien, in den Nahen Osten
1856   Madame Bovary erscheint
1880   er stirbt am 8. Mai in Croisset

Flauberts Zeitgeist

  • Flaubert ist nicht sonderlich politisch engangiert, im Gegenteil, er gibt zu, dass ihm die Politik auf die Nerven gehe
  • Flaubert missachtet den Großteil seiner Zietgenossen. Antityp ist für ihn der Bourgois, der für ihn nicht nur ein Wesen aus der Mittelschicht ist, sondern ein Typ, der vom Bürgertum in alle Gesellschaftsschichten ausstrahlt
  • Seiner Meinung nach ist der Zeitgeist in der bürgerlichen Epoche der Ungeist.

Flauberts Hauptwerk: Madame Bovary
Kurzzusammenfassung

Das Werk schildert das triste Eheleben der jungen Protagonistin Emma Bovary und ihre Versuche, dem kleinbürgerlichen Leben auf dem Land und ihrem immer mehr verhassten Mann zu entfliehen
Immer mehr kollidieren Emmas Glückserwartungen mit der Langeweile des Alltagslebens: Sie stürzt sich in erotische Abenteuer, die sie nach dem Vorbild der romantischen Literatur inszeniert, begeht Ehebruch, gerät durch ihre Konsumsucht auch noch in finanzielle Bedrängnis und sucht im Selbstmord die Erlösung aus ihrer psychischen und materiellen Verstrickung.

Rezeptionsgeschichte

  • Die Veröffentlichung in der Revue de Paris im Jahre 1856 stellt eine entscheidende Wendung für die Geschichte des europäischen Romans dar. Flaubert gilt als Schöpfer des modernen Romans
  • Das Thema des Romans löste einen Skandal aus
  • Flaubert wurde der Immoralität angeklagt, unter anderem wegen der Verherrlichung des Ehebruches. Er wurde freigesprochen
  • Dieser Prozess wird zur besten Werbung für den Roman. Mit einem Schlag wird Flaubert bekannt und sein Werk verkauft sich innerhalb von zwei Monaten 15000 mal.
  • der Roman bleibt in der Presse sowie in der breiten Öffentlichkeit lange Zeit umstritten.

    Vorreiter des modernen Romans:
  • drei Letilinien Flauberts: Unpersönlichkeit, Emotionslosigkeit, Unparteilichkeit.
  • der Erzähler tritt völlig zurück, so dass die Figurenperspektive ungefiltert zur Geltung kommt und damit neue narrative Mittel wie z.B. die erlebte Rede, eingesetzt werden.
  • Dem Leser kommt eine neue Rolle zu. Es gibt keine vom Autor festgesetzte Deutung oder Interpretation. Der Leser muss selbst den Roman in seinem Kopf verstehen und vollenden.
  • Emma Bovary ist eine der ersten Romanfiguren, die der Entheroisierung unterliegen
  • Madame Bovary ist der neue Antiheld in der Literatur. Sie wird nicht als eine gegen die sozialen Normen ankämpfende Ausnahmefigur konzipiert, sondern als eine launische, unzufriedene, egozentrische, dümmliche und nach Leidenschaft schmachtende Frau.
  • Auf jeden Fall ist Emma Bovary bemerkenswert, vor allem nach dem Geständnis Flauberts:
    "Ich bin Madame Bovary".

IV. Französischer - deutscher Realismus

  • größter Unterschied liegt in den zeitgeschichtlichen Gegebenheiten
    ==> Deutschland ist bis 1870 eher ein unzusammenhängender Flickenteppich als ein zusammengehöriges Staatsgebilde. Es fehlt ein Repräsentant ihrer Nation, den man bewundern oder auch verachten kann. Die deutschen Realisten müssen erst einmal einheitliche bürgerliche Werte vorlegen, damit einmal gegen diese Werte rebelliert werden kann
    <==> Frankreich ist seit jeher ein stolzer zentralistischer Staat
    Die französischen Realisten haben ein Staatsoberhaupt und die Bourgeoisie gegen die sie rebellieren können
  • die meisten deutschen Realisten sehen eine didaktisch- sittliche Funktion in ihren Werken, z.B. Keller und schreiben für das Bürgertum <==> Die Franzosen schreiben gegen das Bürgertum und seine falsche Moral, z.B. Flaubert
  • einige Werke des französischen Realismus, u.a. "Madame Bovary" sind nicht vergleichbar mit dem deutschen Realismus, eher mit Werken des deutschen Expressionismus, wie "Berlin Alexanderplatz".

Literatur:

  • Lauer, Reinhard: Europäischer Realismus; Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, 1980 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft; Bd 17)
  • Dethloff, Uwe: Französischer Realsimus; Suttgart/ Weimar: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1997
  • Starkie, Enid: Gustave Flaubert; Hamburg/ Düsseldorf: Claasen Verlag, 1971
  • Balzac, Honor&eacuet; de: Le Colonel Chabert, Leipzig: Reclam
  • Rowohlts Monographie : Balzac
  • Grimm, Jürgen : französische Literaturgeschichte ; Stuttgart : Metzler
  • Hugo, Friedrich: 3 Klassiker des französischen Romans, Frankfurt: Klostermann




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