Nina Ort
Institut für deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München

Referate

Wilhelm Raabe: Zum wilden Mann
Referenten: Svetlana Komleva und Verena Bentele

1. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte

Die Geschichte "Zum wilden Mann" wurde bei einem Sommeraufenthalt 1873 in Bad Harzburg geschrieben, wo Raabe einen Langen Weg zu einer Apotheke machen musste, da seine Tochter krank war. Der "Wilde Mann" - Sagengestalt des Harzes.
Die Novelle wurde 1874 zum ersten mal veröffentlicht, hat aber bei den Freunden des Schriftstellers und den literarischen Kritikern Ablehnung und Entfremdung hervorgerufen, sowie auch die Forderungen sie polizeilich zu verbieten.

2. Kurze Inhaltswiedergabe .

Der Apotheker Philipp Kristeller erinnert sich, wie er vor 30 Jahren einem sehr merkwürdigen Freund gehabt hat, den er beim Kräutersammeln immer getroffen hat. Dieser Freund verschwindet dann später aus seinem Leben ebenso unvermutet, hinterlässt aber eine Summe Geld, die Kristeller dazu verhilft, eine Apotheke zu kaufen und eine Ehe anzustreben.
Im Verlauf der Erinnerungserzählung Kristellers erscheint dann auch dieser seltsamer Freund selbst. August Mördling - früher, jetzt - der Oberst Dom Agostin Agonista erzählt über seine Jugend und sein wildes Leben in Brasilien.
Am Ende der Erzählung nimmt er das ganze Vermögen mit sich fort, ruiniert damit die Existenz des alten Apothekers. Kristeller zieht sich in sein kahles , leeres Haus mit der alten Schwester von allen Freunden verlassen zurück.

3. Hauptpersonen der Novelle:
3.1. Philipp Kristeller als "menschlicher Idealtyp"

  • Bedeutung der Namen: Philipp / Apostel, Kristeller / Christen, Dorothea / Gottesgabe.
  • Kristeller hat einen ungebrochenen Vorsehungsglauben, hält sich an Abmachungen, glaubt an das Gute in allen Menschen, ist treu, glaubt an Gott.
  • Ausdruck seiner Weltwahrnehmung ist das biedermeierliche Hinterstübchen der Apotheke mit den vielen Bildern. Selbst als diese sich in Wahre verwandeln bleibt er gutmütig.
  • Weltwahrnehmung und Lebensgefühl stimmten nur in dem Jahr, in dem er Johanne liebte, überein.
  • Kristeller ist melancholisch und leidet an Hypochondrie, er therapiert sich in der Apotheke selbst. Ergebnis der Therapie ist z. B. die Erfindung des Magenbitters namens Kristeller. Diese Medizin führt auch August zu der Apotheke.
  • Die Person Kristeller entspricht der Denkweise Raabes. Gutmütige Menschen werden vom Fortschritt überrollt. Nachdem Kristeller dem Agonista die Rückzahlung des Darlehens angeboten hat, nennt er ihn wieder August und stellt so den ursprünglichen Zustand der Freundschaft wieder her.
  • Nach dem völligen Verlust seiner materiellen Grundlage gönnt Kristeller dem August sein Glück und beweist so, dass das Gute im Menschen trotz der "schlechten Welt" bestehen bleibt. Kristeller ist nach den Vorstellungen von Raabe ein menschlicher Idealtyp.

3.2. August Mördling( der Oberst Dom Agostin Agonista) - Vertreter des Materialismus.
Er verkörpert die böse Welt in der Geschichte.

  • Bedeutung des Namen: Mördling - Mord, Agonista - die Agonie, der Todeskampf.
  • August ist gebildet, hat einen klugen Kopf und einen klaren Verstand, der genau weiß, was er sagt und tut. Die einmalige Ausführung eines Amtes ( als Scharfrichter), was seine Familie ihm vererbt hat, bringt ihn in eine tiefe Lebenskrise. Er entledigt sich der seelischen Güter, des Empfindens für Schuld und Unschuld, sowie auch seines Vermögens.
  • Er erlebt den Werdegang zu einem Unternehmer in einer neuen Welt, wo die Begriffe von Moral, Dankbarkeit und Menschlichkeit nicht mehr gültig sind. Selbst das menschliche Leben hat keine Bedeutung für ihn.
  • Er ist zu einem Egoist geworden, der nur nach seinem eigenen Vorteil geht. Seine Menschen nutzt er skrupellos aus. Er ist Materialist, Ideen kennt er nicht mehr. Deswegen nimmt er das ganze Kapital mit Zinsen weg, ohne auf die Lebensarbeit des Apothekers acht zu haben, er beraubt ihn in aller Gemütlichkeit und Herzlichkeit. Damit zerstört er die Illusion Kristellers von der großen Freundschaft.
  • Symbol des wilden Mannes, des Blutstuhls , des Ehrenstuhls.
    Die Szene auf dem Blutstuhl zieht die unsichtbare Grenze im August Mördlings Leben , sie trennt die alte und die neue Welt für ihn.
    Agonista verkörpert den wilden Mann , auf ihn verweist auch der Name der Apotheke.
    Kristeller hält einen Ehrenstuhl für seinen Wohltäter 30 Jahre frei, der will sich aber nicht hineinsetzen.
  • Das Böse siegt , Agonista erreicht was er will, äußerlich erscheint er glücklich , aber er lebt in einer Welt des Scheins und Trugs, der Augenblick und das Materielle beherrschen ihn.

4. Die Teufelspaktsituation in "Zum Wilden Mann" und in "der Sandmann"

  • Kennzeichen der Teufelspaktliteratur: Der Teufel bietet jungen Männern, die sich in einer Mangelsituation befinden, ein Hächstmaß an Reichtum, Macht und Erotik an. Jedoch wird alles zurückgefordert, ein normales Leben ist nach dem Handel nicht mehr möglich.
  • In beiden Geschichten führt eine nichtumkehrbare Handlungskette zu einem schlimmen Ende.
  • Die Verführerinstanz wird in beiden Novellen von Menschen mit Teufelszügen übernommen. In "der Sandmann" ist es der Wetterglashändler, in "zum Wilden Mann" sind es August und "der Schwarze".
  • Zwei Teufelspakte in "zum Wilden Mann": Der eine zwischen Agonista und "dem Schwarzen", der andere zwischen Kristeller und August. August ist der verführte Verführer, er kennt die Lebenssituation von Kristeller, weiß von dessen finanzieller Situation, nach dieser Verführung macht er sich von dem "Schwarzen" abhängig.
  • Auffällig in beiden Novellen: Die Frauen, Klara und Dorette, lassen sich vom Teufel nicht verführen, sie erkennen die Konsequenzen des Handels.
  • In der Literatur des Realismus nähern sich die Teufelspaktgeschichten den Lebensgeschichten an, Abweichungen von gewöhnlichen Lebenssituationen werden zum Thema. Abweichungen bei Kristeller sind der Verlust des väterlichen Erbes, seine abnormale Familiensituation.
  • In Beiden Novellen stellt der Teufel den Fortschritt dar. In "der Sandmann" steht der Wetterglashändler Coppola für den Fortschritt, zerstört Nathanaels Welt durch ein neues Instrument. In "zum Wilden Mann" kommt August aus der "neuen Welt" zurü,ck, der Spekulant zerstört das Bilderkabinett des Philisters.

5. Die Erzählsituation

  • Rahmenerzählung: Der Anfangs- und Schlussbericht werden von einem quot;Wirerzähler" erzählt, dieser unterbricht die Binnenerzählung mit Kommentaren, er bleibt ungenannt.
  • Binnenerzählung: Die Protagonisten erzählen ihre Lebensgeschichte in je drei Kapiteln, die Erzählung von Agonista füllt die Lücken in Kristellers Bericht.
  • Die Verschränkung der Geschichten drückt die Weltanschauung von Raabe, aus, alles hat zwei Seiten, das Erzählte muss kritisch beobachtet und interpretiert werden.

6. Die Weltanschauung von Wilhelm Raabe

  • Das, was man ist, gründet auf die Vergangenheit. Während Agonista diese verleugnet, weiß Kristeller bis zum Schluss, dass das Geld (Bluterbe von Agonistas Vorfahren) nur ein Darlehen war. Er gedenkt den Worten seiner Geliebten, akzeptiert sein Leben. Kontinuität von betragen und Besinnung zeichnen seine Persönlichkeit aus.
  • Das Dorf im Harz ist für Raabe Stellvertreter für eine Gesellschaft, die die Wahrheit nicht erkennen will. Wie leicht sich Menschen blenden lassen, wird an den grotesk gestalteten Figuren Förster, Doktor und Pastor deutlich.

Literatur:
  • Daum, Josef u. Schrader, Hans-Jürgen: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft. Waisenhaus- Buchdruckerei u. Verlag, Braunschweig, 1983. S.59-70.
  • Detering, Heinrich: Theodizee und Erzählverfahren, Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes. S. 68-91
  • Hoffmann, Volker: Jahrbuch der Schillergesellschaft. ZUM WILDEN MANN, Die anthropologische und poetologische Reduktion des Teufelspaktthemas in der Literatur des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes Erzählung.
  • Pongs, Hermann: Wilhelm Raabe, Leben und Werk. Quelle&Meyer, Heidelberg, 1958
  • Raabe, Wilhelm: Zum Wilden Mann. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart.
  • Roebling, Irmgard: Wilhelm Raabes doppelte Buchführung. Tübingen, 1988. S 60-88.
  • Helmers, Hermann: Wilhelm Raabe.- Metzler, Stuttgart, 1968.
  • Sinnefeld, Maria: Wilhelm Raabes Menschengestaltung. Berlin.1939.
  • Steinbach, Dietrich: Wilhelm Raabe "Zum wilden Mann". - Stuttgart.1980. S.112.



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