Gerhart Hauptmann: BAHNWÄRTER THIEL
Referentinnen: Susanne Pacal, Marion Loy, Michaela Gunetsreiner
Biographisches zum Autor:
- Geboren 1862 in Ober - Salbrunn in Schlesien als Sohn wohlhabender Kurhotelbesitzer
- Nach der Schule Versuche auf verschiedensten Gebieten: von Landwirtschaft bis Malerei
- Zeichenunterricht und Schauspielunterricht in Dresden und Berlin / Beginn des Schreibens von Epen und Geschichtsdramen
- 1885 Hochzeit/ Leben in Berlin Beginn der Schriftstellerei
- Eintritt im Verein "Durch" Verkehr mit vielen Naturalisten (Wedekind, Henkell, Mackay)
- Kontakte zu Rilke, Hoffmannsthal, Mahler
- Große Popularität dreimalige Verleihung des Grillparzer-Preis (1896, 1899, 1905) Ehrendoktor in Oxford, Leipzig, Paris und New York
- 1912 Nobelpreis für Literatur
- Engagierte für Demokratie und Humanismus nach 1. Weltkrieg
- Nazi-Zeit mehr Duldung seiner Person
- 1945 Tod in Agnetendorf
- Werke: Vor Sonnenaufgang, Die Weber, Die Ratten
Zum Autor in seiner Zeit:
- Hauptmanns größter Antrieb war sein Mitleid mit den Armen, Unterdrückten und Schwachen.
- Bekennung zur Theorie des genetisch und sozial determinierten Menschen
- Naturalistische Werke wie Bahnwärter Thiel, Die Weber und Vor Sonnenaufgang unterstreichen seine Denkweise
- Die Werke erregten viel Aufsehen und wurden teilweise verboten (Wilhelm II. kündigte bei Uraufführung der Weber seine Kaiserloge)
- 1912 Absetzung von Hauptmanns Breslauer Festspiele in deutschen Reimen, da "zu wenig nationalistisch und zu pazifistisch"
- 1912 allerdings auch Nobelpreis d.h. übriges Deutschland und die Welt feierte ihn
- In NS-Zeit Abkehr von Sozialkritik und Hinwendung zum Klassizismus
Inhalt:
Teil I: Der robuste, stille Bahnwärter Thiel heiratet nach dem Tod seiner kränklichen Frau Minna die herrschsüchtige, brutale Bauernmagd Lene, die sich von nun an um seinen geliebten, kleinen Sohn Tobias kümmern soll. Teil II: Diese entwickelt nach der Geburt eines eigenen Kindes einen großen Hass auf Tobias und beginnt ihn zu tyrannisieren und schwer zu misshandeln. Obwohl Thiel diese Tortur mitbekommt, tut er nichts dagegen, da er von seiner Frau psychisch abhängig zu sein scheint. Teil III: Immer mehr steigert er sich in die Erinnerung und Verehrung seiner toten Frau Minna hinein, welche er vor allem in seinem abgelegenen Bahnhäuschen ausleben kann.
Als ihm Lene eines Tages eröffnet, dass sie ihn zu seiner Arbeit begleiten wird, um einen nahegelegenen, geschenkten Acker zu bewirtschaften, ist Thiel zu tiefst beunruhigt, willigt schließlich jedoch ein. Am nächsten Tag macht sich die Familie auf den Weg zu den Gleisen, wo es zu einem schlimmen Unfall kommt. Tobias, auf den Lene hätte aufpassen sollen, wird von einem Zug überfahren und stirbt kurze Zeit später. Von tiefer Trauer und Verzweiflung befallen, verfällt Thiel dem Wahnsinn und tötet schließlich auch seine Frau und ihr gemeinsames Kind. Am darauffolgenden Tag wird er, auf den Gleisen sitzend und die Mütze seines Sohnes streichelnd, aufgefunden und in ein Irrenhaus gebracht.
Charaktere:
THIEL:
- Macht seine Arbeit regelmäßig, gewissenhaft, routiniert --> fast nie krank
- Unterliegt Lene sexuelle Leidenschaft, Brutalität
- Anfällig für Visionen Hang zum Wahnsinn (==>Nathanael aus Sandmann)
- Äußeres: rote Haare, stämmig, kräftig
MINNA (Minnesang/ Liebe):
- Vergeistigte Liebe zu Thiel, jedoch unerfüllt durch frühen Tod --> Visionen
- Äußeres: feingliedrig, kränklich, blass
==>Vertreterin der emanzipierten, höheren Schicht
TOBIAS:
- Sucht Nähe und Liebe des Vaters --> erweckt Hass der Stiefmutter --> Misshandlung
- Verbindungsglied zwischen Thiel und Minna
- Äußeres: kränklich, schwach, rothaarig, blass
LENE ( Helena: Verführerin im Faust):
- Herrschsüchtig, primitiv, zanksüchtig, eifersüchtig, brutal, ordinär, triebgesteuert
- Psychische Gewalt über Thiel
- Äußeres: robust, stark
==> Gegenteil zu Minna/ Vertreterin der unteren Schicht des Proletariats
UMGEBUNG:
- Arme Fischer, Kleinbauern, Waldarbeiter ==> Armut der sozialen Unterschicht; Erdulden des Leids; keine Aufstiegsmöglichkeiten
- Bahnpersonal: Mitgefühl mit Thiel; solidarisches Handeln
- Pfarrer: obwohl Thiel immer in die Kirche geht, kümmert er sich nicht um ihn
Interpretationsansatz:
- archaisch anmutende Rach- und Opfertragödie mitten im zeitgemäßen Alltag
- Psychologische Studie, Tragödie des menschlichen Schicksals
- Unaufhaltsame Weg eines ordentlichen und friedlichen Mannes zum Mord an Frau und Kind
- Mensch verfremdet sich im eigenen Ich und in der Wirklichkeit
- Darstellung sexueller Triebgebundenheit
- Durchbruch der Verzweiflung, Zusammenbruch der innersten Existenz
- der einfache Mensch kann der gewaltsamen Wirklichkeit nicht entkommen
- Verknüpfung von dinglich- sinnlicher Außenwelt und psychischer Innenwelt, Grenzen werden aufgehoben
- die Außenwelt wird zum Spiegel der Innenwelt
- B.T. ist eine gespaltene Existenz:
--> Sehnsucht nach dem Reinen und Heiligen (frühere Frau)-gleichzeitig Abhängigkeit zur jetzigen Frau
--> Versuch der Auslebung beider Bereiche durch Trennung (Heim und Arbeit)
--> notwendiges Scheitern
- Lenen ist die Wirklichkeit, die über ihn hineinbricht
- Verknüpfung von Natur und Psyche
--> Bilder der Bahnstrecke und der Natur nehmen die mentalen Vorgänge vorweg/Naturgewalten als Spiegel der inneren Zerrissenheit
- Elementare Gewalten verweisen auf das Irrationale
- Realistisch ist der psychologische Zerfall unter diesen Umständen
Symbolik und Motivik:
Farbensymbolistik:
v.a. rot in allen Variationen (Blut, Tod, Wahnsinn, Hass, Leidenschaft)/erdfarben, braun, purpur
bläulich, weiß, milchig (Krankheit, Tod)
schwarz, schwarz-weiß, schwarz-grän
Motive:
- Waldlandschaft (friedlich-bedrückend)/ Wettermotivik: Widerspiegelung der inneren und äußeren Handlung
- Wärterhäuschen ( "Kapelle", Verehrung Minnas- Entweihung durch Lene)
- Traum/ Vision vermischt sich mit der Realität
- Eisenbahn/-strecke --> zentrales Dingsymbol (dämonisches Ungeheuer--> der Fortschritt ist unerbittlich, aber auch faszinierend) --> Grausamkeit auch in der Natur des Menschen (Vergleich Lenens mit einer Maschine)
--> Vertrautheit Thiel-Eisenbahn <==> Tod Tobias
- Wahnsinnsmotiv auch im Sandmann (Nathanael), zum Wilden Mann ( Agonista) und in der Figur des Woyzeck
Sprache und Erzählweise:
- Allwissender Erzähler (beschreibt, was die Leute wahrnehmen), aber keine Kommentare --> personale Erzählweise
- NAT: Wenige Dialoge
- Zahlreiche Vergleiche/ Adjektive/ symbolisches Sprechen (Lautmalerei)
- Auffällig: Schilderung des Höhepunktes: Umschwung Präteritum-Präsens; kurze Sätze; erlebt Rede
- Fachsprache (Eisenbahntechnik --> Studie/ siehe auch Schimmelreiter)
Epocheneinordnung:
- Hauptmanns Frühwerk leitete den Naturalismus ein
- novellistische Studie
Neuerungen:
- Sekundenstil, Schilderung des Augenblicks (Momentaufnahmen)
- Objekt: Mensch in der Zeit/ in Handlungsumständen/ in seiner Moral ==> keine Heldendarstellung --> passives Leiden (siehe Woyzeck: Antiheld, Gefangener des Milieus ohne Ausweg)
- Methoden: Beobachtung, Experiment, Studie
- Einbeziehung des Hässlichen und Unsittlichen, tabuisierte Themen
- Darstellung des proletarischen Milieus ('kleine Arbeiter')
- Stoff: Entmächtigungen der alltäglichen und durchschnittlichen Welt durch das Irrationale
- Zerfallsgeschichte eines psychisch labilen Mannes, sexuelle Triebgebundenheit
- Technik als unheimlich Zerstörerisches
Impressionistisch:
-Sensibilität für das Akustische und Optische, für Farben, Natur und Atmosphäre
Abgrenzung zum Naturalismus:
- Das Mytische (Grenzen zwischen Traum, Version und Wirklichkeit werden aufgehoben)
- Umkehrung des nachromantischen Naturverhältnisses:
- Natur wird zum Zeichen der zerstörerischen Mächte, die auch im Menschen angelegt sind
Literatur:
- Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam 2001
- Poppe, Reiner: Königs Erläuterungen und Materialien. 5. Aufl. Hollfeld: Bange Verlag 1999
- Killy, Walter: Literaturlexikon. Autoren und Werke. Bd. 5. München, 1990
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